Korakrit Arunanondchai
Songs for dying / Songs for living
In seiner Einzelausstellung Songs for dying / Songs for living verwandelt Korakrit Arunanondchai den Kunstverein in Hamburg durch raumübergreifende Videoinstallationen in einen atmosphärischen Ort des Geschichtenerzählens, an dem Geschichtsschreibung, Globalisierung und Informationsnetzwerke thematisiert werden. Inspiriert wird er dabei häufig von den kulturellen Kontexten seiner Heimat Thailand sowie von Orten, die von postkolonialen Traumata geprägt sind.
Die im Dialog stehenden und der Ausstellung ihren Titel gebenden Videoarbeiten Songs for dying (2021) und Songs for living (in Kollaboration mit Alex Gvojic, 2021) verarbeitet der Künstler persönliche Erfahrungen und untersucht deren soziohistorische Bedingungen.
Sie teilen die Ausstellungshalle in unterschiedliche Kulissen. Durch einen gerafften blauen Vorhang und bläulich schimmerndes Tageslicht erinnert die Atmosphäre der Installation Songs for living an die Tiefen des Ozeans. Schräg gegenüber bedeckt hingegen Erde den Boden des Ausstellungsraumes, und die Dunkelheit schwarzer Wände umgibt die Videoinstallation Songs for dying.
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Drei Lieder gliedern Songs for dying in drei Akte, in denen der Prozess des Sterbens thematisiert wird. Dieser erscheint nicht als endgültig, sondern als Möglichkeit für die Entstehung neuer Formen der Existenz. Arunanondchai ist der Überzeugung, dass das Bewusstsein nach dem Tod in Geistern weiterlebt, die durch spirituelle Medien kommunizieren. In Songs for dying sprechen Geister durch eine Schamanin, die eine Meeresschildkröte zum Ozean trägt – an jenen Ort, an dem ihr Leben begann. Das Tier ist eine der Hauptfiguren der Erzählung: eine gebrechliche und sterbende Schildkröte, die symbolisch für den verstorbenen Großvater des Künstlers steht, aber auch jene Meeresschildkröte meint, die in der Mythologie als Gottheit verehrt wird und dort vor allem auf der südkoreanischen Insel Jeju beheimatet ist. Damit referiert das Video auf das Jeju Massaker in Südkorea im Jahr 1948, bei dem 30.000 Zivilist:innen bei einem Aufstand gegen paramilitärische rechte Einrichtungen, die Besetzung der Insel Jeju durch das US-Militär und die fortschreitende Teilung Koreas starben. Als Folge des staatlich verordneten Verbotes, über das Geschehen zu sprechen, finden in Jeju Trauerrituale zur Erinnerung an die Opfer statt. Dabei verkörpern Schaman:innen den Geist der Opfer im Sinne einer Praxis der spirituellen und rituellen Erfahrung als Form von Heilung und Aufarbeitung von kollektiver kultureller Erinnerung. Dieses historische Ereignis verbindet Arunanondchai mit der aktuellen soziopolitischen Situation in Thailand, die von pro-demokratischen Protesten gegen das Militär und die Monarchie geprägt ist. Hier reagieren die Protestierenden auf die Restriktionen der Regierung mit Codes aus Popkultur und Internet wie der Serie The Hunger Games (Die Tribute von Panem), aber auch mit thailändischen spirituellen Traditionen, um ihre Forderungen sichtbar zu machen. Arunanondchai vergleicht die Art, wie die Demonstrierenden den thailändischen König ansprechen, mit einer Art spirituellem Medium.
Die thailändische Monarchie charakterisiert enormer Reichtum und eine Macht, die gegen jegliche Art von Gesetz immun ist und den König vor Kritik schützt. Songs for dying schließt mit der Ankündigung einer Welt nach dem Tod ab – einem Kosmos, der als (Lebens)-Raum für unterschiedlichste Wesen dient.
Artist Talk Koraktirk Arunanondchai
ARTIST TALK: Alex Gvojic & Bettina Steinbrügge
Songs for living hingegen entstand in Zusammenarbeit mit dem Künstler Alex Gvojic und eröffnet eine Welt nach dem Tod, in der sich Geister in Körpern wiederfinden. Begleitet wird diese Verwandlung durch pulsierende Gitarren- und Schlagzeug-Instrumentals, die sich im Verlauf des Videos in ihrer Rhythmik steigern. Neben der musikalischen Untermalung hört das Publikum eine gottgleiche Erzählstimme, die von der Musikerin Zsela stammt. Der Text orientiert sich an dem philosophischen Werk „Schwerkraft und Gnade“ von Simone Weil, das eine Physik des Daseins beziehungsweise eine Metaphysik der Physik untersucht, und Édouard Glissants Essays aus „Soleil de la conscience“ („Sonne des Bewusstseins“), die sich mit dem Kolonialismus auseinandersetzen. Wiederholt erscheinen Aufnahmen des Ozeans, der als eine getrennte kosmische Realität und als Mutterleib, aus denen die Geister ins Leben kommen, empfunden wird. Ein weiterer Schauplatz ist New York City, das nach dem monatelangen Lockdown wieder zum Leben erwacht und dessen Atmosphäre von den Künstler:innen als Neuordnung des Bekannten wahrgenommen wurde. Songs for living handelt damit von Transformationen, die zu neuen Formen des Lebens führen. Neubeginn und Ende verschmelzen an dieser Stelle.
In Songs for dying / Songs for living richtet Korakrit Arunanondchai den Blick expliziter als in seinen bisherigen Werken auf existenzielle Erfahrungen. Dabei verknüpft er in seinen Erzählungen Zeitebenen, Räume, Lebewesen und Übernatürliches mit Alltäglichem, sodass sie untrennbar wirken. Über die Auseinandersetzung mit dem Verlust des eigenen Großvaters entfalten sich Gedanken zur kosmologischen Entstehung der Welt und den damit verbundenen Zyklen von Leben und Tod, Wachstum und Zerfall. Arunanondchai vergleicht seine Praxis des Geschichtenerzählens mit der Fähigkeit, neue Realitäten zu erzeugen.
Die Ausstellung wird von Bettina Steinbrügge kuratiert. Es handelt sich um eine Koproduktion mit dem Migros Museum für Gegenwartskunst in Zürich.
Zur Ausstellung entsteht die bisher umfassendste Publikation zum Werk von Korakrit Arunanondchai, die anlässlich von drei Einzelausstellungen im Migros Museum für Gegenwartskunst, dem Kunstverein in Hamburg und dem Museu de Arte Contemporânea de Serralves in Porto gemeinsam von den Institutionen herausgegeben wird.